
Mit uns und nicht über uns!
Damit sich in der Gesellschaft etwas verändert, ist es wichtig, dass Menschen mit Beeinträchtigungen für sich selbst sprechen. Menschen mit Beeinträchtigungen haben das Recht, ihre Interessen selbst zu vertreten und eigenständig Entscheidungen zu treffen. Dies ist in Artikel 3 der UN-Behindertenrechtskonvention festgehalten. Aber was heißt das konkret im Alltag bzw. in den Caritas-Werkstätten?
2008 hat Österreich die UN-Behindertenrechtskonvention (UN-BRK) unterzeichnet. Dieser Meilenstein veränderte die Sichtweise auf Behinderung: weg von einem medizinischen Modell, hin zu einem sozialen, menschenrechtlichen Modell. Nicht die Beeinträchtigung steht im Vordergrund, sondern die Barrieren, die die Teilhabe von Menschen mit Beeinträchtigung verunmöglichen. Menschen mit Beeinträchtigungen müssen selbstbestimmt alle Menschenrechte, die für uns alle gelten, leben und verwirklichen können – wo notwendig mit Unterstützung. Gleichzeitig liegt die Verantwortung, eine inklusive Gesellschaft zu gestalten, bei allen Menschen und nicht nur bei einzelnen Personen – mit oder ohne Beeinträchtigungen.

Erste Schritte in der Caritas St. Pölten
Begonnen hat alles vor 20 Jahren, als die ersten Werkstattvertreter*innen der Caritas gewählt wurden. „Ein großer Schritt in Richtung Beteiligung und Mitsprache von Menschen mit Beeinträchtigung“, erzählt Renate Kalteis aus der Fachstelle Teilhabe. Auf Stimmzetteln, die mit Foto und Namen der Kandidat*innen versehen waren, konnten die Klient*innen ihre Vertretungen wählen. Bevor es zur Abstimmung kam, wurde über die Wahl informiert und Kandidat*innenlisten erstellt. Pro Werkstatt wurden zwei bis vier Werkstattvertreter*innen gewählt. „Ihre Aufgaben sind damals wie heute vielfältig. Zum einen müssen sie die Wünsche, Sorgen und Interessen der Kolleg*innen sammeln, zum anderen sind sie auch dafür verantwortlich, Anliegen der Kolleg*innen an die Leitung weiterzuleiten und zu besprechen. Sie schreiben Protokolle, treffen sich wöchentlich und alle 14 Tage mit der Leitung der Werkstatt“, weiß Renate Kalteis. Seit 2016 werden auch Wohnhausvertretungen gewählt. Stefan Gric ist Wohnhaus- und Werkstattvertreter in St. Leonhard am Forst und setzt sich leidenschaftlich für Mitarbeiter*innen und Bewohner*innen ein. „Ich bespreche für uns wichtige Themen, wie zum Beispiel, wo geht der nächste Betriebsausflug hin, wer geht am Faschingsumzug mit. Alle sollen mitbestimmen und mitreden“, betont er. „Wir machen auch Führungen für Schulen, wir berufen Versammlungen ein und halten eine Werkstattkonferenz mit Caritas-Bereichsleitung und Fachbereichsleitung ab. Alle drei Jahre gibt es eine Wahl, jede*r kann sich aufstellen lassen. Werkstattvertreter*innen sind aber nicht dafür da, Konflikte zu schlichten. Sie können sich jedoch als Sprachrohr an die Werkstattleitung wenden“, so Stefan Gric.


Unsere Meinung ist wichtig, wir wollen gehört werden, und unsere Meinung soll auch berücksichtigt werden. Wir wollen selbst für uns entscheiden und auch mitentscheiden können.
Patrick Schober

Was ist Selbstvertretung?
2014 wurden auch Möglichkeiten für Treffen von Selbstvertretungen für Menschen mit Beeinträchtigung in der Caritas St. Pölten geschaffen. Selbstvertretung bedeutet, dass Menschen mit Beeinträchtigung sich in Gruppen zusammenschließen, sich gemeinsam für die eigenen Interessen und Teilhabe in der Gesellschaft einsetzen und für sich selbst Entscheidungen treffen. Ganz nach dem Motto: „Nichts über uns ohne uns.“ Die Selbstvertretung ist im Rahmen der „people first“-Bewegung, die in den USA und Schweden ihren Ursprung hat, wichtig geworden. Mittlerweile gibt es auf der ganzen Welt Selbstvertretungsgruppen, die nach den Prinzipien von „people first“ arbeiten. Sie kämpfen gegen Diskriminierung und machen die Gesellschaft darauf aufmerksam, dass Menschen mit Beeinträchtigung oft benachteiligt sind. Sich selbst zu vertreten, heißt, für sich selbst zu sprechen, anstelle jemand anderen für sich sprechen zu lassen.

Umsetzung in die Praxis
Roland Bauer ist Selbstvertreter und arbeitet im carla Vitis im Waldviertel. „Ich bin im Zug auf der Fahrt in die Arbeit immer von Schüler*innen diskriminiert worden, sie haben sich über mich lustig gemacht ... Da habe ich im carla gesagt, ich kann nicht mehr kommen, weil das ertrage ich nicht mehr. Mein Kollege Patrick hat mich dann gefragt, ob ich bei den Selbstvertreter*innen dabei sein will. Das hat mir sehr viel Selbstvertrauen gegeben, da wir viele Themen, die uns Menschen mit Beeinträchtigung betreffen, besprechen. Jetzt traue ich mich wieder mit dem Zug zu fahren.“ „Wir suchen die Themen selbst aus, die wir besprechen“, ergänzt Patrick Schober, ebenfalls Selbstvertreter aus dem carla Vitis. „Gemeinsam haben wir auch eine zweitägige Exkursion nach Wien gemacht, um in verschiedenen Einrichtungen wie zum Beispiel im Parlament oder im Prater die Barrierefreiheit zu testen.“ Als Selbstvertreter nehmen Roland und ich außerdem an den Leitertagungen der Caritas-Werkstätten und -Wohnhäuser teil. Unsere Meinung dabei ist wichtig, wir wollen gehört werden. Wir wollen selbst für uns entscheiden und auch mitentscheiden können. Außerdem vernetzen wir uns mit allen Selbstvertretungen der Caritas in Österreich“, betont Patrick Schober.
Wichtig ist den Selbstvertreter*innen, sich mit ihren Anliegen auch an die Politik zu wenden. Ziel ist es, die Menschen mit Beeinträchtigungen zu stärken, zu beflügeln. Menschen mit Beeinträchtigungen sollen ihre Sache, ihre Angelegenheit selbst in die Hand nehmen können. Menschen mit Beeinträchtigungen aus unseren Einrichtungen sollen die Interessen von Menschen mit Beeinträchtigungen in der Öffentlichkeit und in der Gesellschaft vertreten und auch mit Selbstvertreter*innen aus anderen Organisationen zusammenarbeiten. Aus Sicht der Caritas geht es dabei auch um Partizipation und das Recht auf Mitsprache und Mitgestaltung innerhalb der Organisation. Partizipation bedeutet: Beteiligung von Menschen mit Beeinträchtigung an Entscheidungsprozessen und Einflussnahme auf das Ergebnis. Klient*innen sollen von vornherein mitgestaltend involviert sein. Das heißt, wir wollen und müssen uns vermehrt in Zukunft fragen: In welchen Bereichen gibt es echte Mitbestimmung, wo haben Klient*innen Entscheidungsmacht? Um Partizipation zu fördern, braucht es aber auch erst ermöglichende Strukturen. Echte Partizipation muss vielleicht auch von allen Seiten (erst) erlernt werden!
Zahlen und Fakten
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349 Frauen und Männer leben in 18 Wohnhäusern für Menschen mit Behinderungen.
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218 Frauen und Männer werden durch die Wohnassistenz begleitet.
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756 Frauen und Männer arbeiten in 16 Werkstätten für Menschen mit Behinderungen.
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139 Frauen und Männer sind in 3 Recyclingbetrieben beschäftigt.
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17 Frauen und Männer mit Beeinträchtigung arbeiten in den carlas Krems und Vitis.
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3.072 Besucher*innen bei den Treffpunkten zur Freizeitgestaltung